Neobrutalismus im Webdesign

Neobrutalismus im Webdesign

// von conceptmonkey // Lesezeit ~ 9 Min

Ein Weg raus aus der Homogenisierung?

Hand aufs Herz: ist es nicht manchmal ermüdend, dass die eine Website genauso aussieht wie die nächste? Trotz und vielleicht sogar aufgrund ihrer normierten UX-igkeit und Parallaxeffekte. Dabei reden immer alle von Design und User Experience - und doch, es kommt nicht immer so viel Einzigartiges dabei heraus. Im Gegenteil: viele Websites sind gänzlich unauthentisch, visuell durch-homogenisiert und für eine bestimmte Logik der Massentauglichkeit optimiert.

Doch wo bleibt da also die besondere Erfahrung und das solide, ehrliche Design? Produkte und Werbebotschaften in glatte, shiny Oberflächen gepresst, dezent angestrichen, mit schnöden Buttons und perfekt ausgerichteten Elementen dekoriert – langweiliger und unrelevanter geht’s dann vielleicht kaum. Viele Websites entsprechen inzwischen dem, was Normkartoffeln aus dem Supermarkt bereits hinter sich haben.

Zum Glück gibt es dann ab und an frischen Wind und eine Prise der gestalterischen Revolte … der frische Wind aus diesem Artikel beginnt im Brutalismus.

Von Brutalismus zu Neo-Brutalismus

Der Ursprung brutalistischen Webdesigns geht logischerweise zurück auf die brutalistische Architektur der 1950er Jahre (siehe auch Wikipedia ) – diese wird nicht zuletzt repräsentiert durch die wuchtigen Betonbauten jener Phase.

Wotrubakirche in Wien - C.Stadler/Bwag, Foto via Wiki Commons
Wotrubakirche in Wien - C.Stadler/Bwag, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Brachialbauten, die keinen Hehl aus ihrer rohen Struktur machten. Während die brutalistischen Architekten vorzugsweise mit Beton arbeiteten, spielten digitale Brutalisten später (naheliegenderweise) mit dem Stoff aus der digitalen Welt.

Brutalistisches Webdesign orientiert sich an der Funktion und rohen Bauteilen des Web.

craiglist
craiglist.org

“While brutalist websites might not have the megalithic and severe presences that brutalist buildings do, they are constructed in a similar fashion using the raw materials of the web. This means a greater reliance on HTML instead of CSS and JavaScript.

These are some of the identifiable traits of this web design technique:

• Raw text • System fonts • Underlined hyperlinks • Web-safe colors • Monochromatism • Solid color backgrounds with little to no decoration (so no gradients) • Geometric components and sharp edges • Untreated photos — i.e. no borders, shading, rounding, etc. • Open navigation (as opposed to dropdown or hamburger menus) • Dividing lines between sections • Content contained within tables • Outline buttons

While many brutalist websites share these traits, the designs aren’t always executed in the same manner — especially when web designers infuse brutalism into modern design techniques. For instance, the Whitney Museum website contains a predictable structure by today’s web design standards while also utilizing lots of imagery. (via Nofar Shviro @ https://elementor.com/blog/brutalism-in-web-design/ )”

Nofar Shviro hebt auch die Gemeinsamkeiten von brutalistischen Websites mit den Prinzipien im Minimalismus hervor. Denn beide Design-Trends drehen sich um die Idee, dass weniger mehr ist und jedes Element einem klaren Zweck dienen sollte. Gleichwohl gibt es Unterschiede zwischen der brutalistischen und minimalistischen Lehre … minimalistische Designs sind zwar häufig auf das Nötige reduziert, aber auch vergleichsweise elegant, ästhetisch anspruchsvoll und somit in Folge meist massentauglicher. Brutalistische Websites sind hingegen formal, roh und ästhetisch nicht zwingend gefällig. Diese Unterscheidung halte ich für sehr wichtig, um die Motivation hinter brutalistischem Websdesign zu verstehen.

Eine nett zusammengefasste Gegenüberstellung von brutalistischen, neo-brutalistischen und minimalistischen Eigenarten im Design stellt Sepideh Yazdi an:

“Brutalism

Brutalism is like a big, flat building made of plain concrete. It doesn’t have any fancy decorations or details, just the basic structure.

Neo-Brutalism

Neo-Brutalism is like Brutalism, but with more interesting and unique parts added to it. It still keeps the plain look, but has some extra things going on.

Minimalism

Minimalism is like a simple and clean room with only the bare essentials. It’s easy to use and everything is in its place. There’s not a lot of clutter or extras, just what’s needed. (via @sepidy on Medium )”

Auf brutalistwebsites.com heisst es:

“In its ruggedness and lack of concern to look comfortable or easy, Brutalism can be seen as a reaction by a younger generation to the lightness, optimism, and frivolity of today’s web design.”

Brutalismus im Web halte ich insofern für eine interessante, tendentiell avantgardistische Gegenbewegung auf das Schick einer massentauglichen und werbewirksam aufpolierten Informationswelt. Funktion dominiert die Form durch die brachiale Verwendung der rohen und ursprünglichen Grundelementen des Hypertexts. Ein brutalistisches Design heute basiert vermutlich auf einer soliden Grundüberzeugung seines Autors, denn der zu bennende Nachteil ist, dass die grobmotorische Ästhetik leider nicht für alle Rezipienten gleichermaßen funktioniert. Dadurch verliert leider die Funktion der Informationsvermittlung auch an Qualität, vielleicht liegt hier ein inhärenter Widerspruch in der brutalistischen Webdesign-Praxis.

So überrascht es eigentlich nicht so wirklich, dass die avantgardistische Attitüde im Kern adaptiert wird, aber die visuelle Rohheit einer milderen, massentauglichen Abwandlung weicht: dem neo-brutalistischen Webdesign.

Neo-brutalistisches Design

Webdesign im Sinne des Neo-Brutalismus treibt andere Stilblüten … denn Farben und Zierwerk verdrängen die Betonursprünge. Die Designs wirken häufig immer noch authentisch, roh, unpoliert und unangepasst, aber dennoch modern und massentauglicher. Die brachiale Kraft klarer Linien und Kontraste wird ergänzt durch eine neue Energie und es entsteht eine visuelle Abwandlung des ästhetischen Repertoires! Ob Punk oder schon Kitsch müsste man von Fall zu Fall unterscheiden, aber es ist eine neue (oder neu abgeleitete) visuelle Sprache die sich hier ausprägt hat. Ok, vielleicht eher Dialekt denn Sprache.

gumroad neo-brutalism
Ein Klassiker neo-brutalistischen Webdesigns: Gumroad.com

In neo-brutalistischen Designs treffen häufig knallbunte Farben auf pechschwarze Schlagschatten und dicke Linien. Unpolierte Formen und asymmetrische Layouts sind möglich, doch alles wirkt eher bold, ist aber keineswegs mehr rein brutalistisch.

#neo-brutalism via dibble.com
#neo-brutalism auf dribbble.com

Farben

Vorbei also die Zeit der Farblosigkeit, vorbei die Zeit der sanften Farbverläufe und harmonisch-seichten Paletten! Jetzt wird reingeklotzt - Neo-Brutalisums setzt auf ‘fette’ Farben:

  • Knallige Palette: Warum weiß oder hellgrau, wenn du pralles Gelb oder sattes Lila haben kannst?
  • Hochgesättigte Akzente: Je bunter, desto besser
  • Keine Farbverläufe: Farben bleiben klar getrennt und deutlich unterscheidbar
  • Pechschwarze Elemente: … für Umrandungen und Schlagschatten
#00A5E0
#FF6B6B
#8C45D2
#FFD23F
#009B1A

Typisch neobrutalistischen Farbtöne sind auffällig, hochgesättigte Primär- und Sekundärfarben, die durch starke Kontraste und klare Abgrenzungen wirken. Oftmals kombiniert mit schwarzen Konturen und Schatten.

Ein Button mit dicker Farbe und Schatten

Und mit ein wenig SCSS / CSS kann man schnell Elemente gestalten, die nicht aus einem Standard-Framework pruzeln …

.neo-brutalist-button {
    background-color: #ffff00; /* Knallgelb */
    border: 4px solid #000000; /* Dicker schwarzer Rand */
    padding: 1rem 2rem;
    font-family: 'Bebas Kai', sans-serif;
    font-size: 1.5rem;
    transform: rotate(-1deg); /* Leicht gekippt */
    box-shadow: 8px 8px 0 #000000; /* Harter Schatten ohne Blur */
    
    &:hover {
        transform: translateY(-5px) rotate(-1deg);
        box-shadow: 12px 12px 0 #000000;
    }
}

Typographie

In einem ersten Zuordnungsversuch könnte man folgende Aspekte für neo-brutalistische Typography identifizieren:

  • Sans-Serif-Schriften mit Persönlichkeit
  • Überdimensionale Überschriften, die für Aufsehen sorgen
  • Experimentelle Zeilenabstände und Buchstabenabstände
  • Typographie als dekoratives Element

Beliebte Schriftarten sind z.B. Lexend Mega, Public Sans, Mabry Pro, Archivo Black und Bebas Kai – Fonts, die Präsenz zeigen!

Schrift wird überhöht, sie muss nicht nur funktionieren oder sich unterordnen, sondern wird zum essentiellen Design-Element. Häufig kommen zwar auch klare, moderne Schriftarten ins Spiel, aber die Bandbreite der Möglichkeiten ist sehr hoch.

Es gibt Websites die Fonts zum Thema ‘Brutalist Typography’ zusammenfassen, z.B. Brutalist Themes . Zum Thema ‘Neo-Brutalist Typography’ gibt es auch etwas . Die Font-Sammlungen zum Thema erscheinen mir nicht immer ganz trennscharf zu sein, was Unterschiede zwischen ‘brutalist’ und ’neo-brutalist’ Fonts betrifft. Ein Indiz dafür, dass sich hier inzwischen vieles vermischt.

Ich würde aber zusammenfassend sagen, dass alle Fonts, die für neo-brutalistische Designs herangezogen oder erstellt worden sind, verspielter und stilisierter sind als es in der klassischen ‘brutalistischen Lehre’ vermutlich denkbar wäre. Neo-brutalistische Fonts werden theoretisch viel stärker als Stil- und nicht rein als funktionales Element begriffen und sollen vermutlich aber gleichermaßen eine Punk-Attitüde des Unangepassten mitschwingen lassen. Bei Neo-brutalistischen Fonts kann man definitiv nicht mehr von reinen, funktionellen Schriftarten sprechen. Es kommen z.T. übertrieben verspielte Fonts zum Einsatz, die dann eventuell brachial und großflächig aufgretragen werden, aber eigentlich nur noch der Gestaltung und damit der ästhetischen Funktion dienen.

gumroad neo-brutalism
Neo Brutalist Display Font by secret-cache via creativemarket.com

Einsatzgebiete

Gute Passung

  1. Kreative Projekte: Portfolios, Design-Studios, Kunst- und Kulturwebsites
  2. Junge, mutige Marken: Startups, die anders sein wollen
  3. Zeitlich begrenzte Kampagnen: Events, Festivals, Pop-up-Stores
  4. Persönliche Websites: Wenn du deine Persönlichkeit unverfälscht zeigen willst

Schlechte Passung

  1. Komplexe Dashboard-UIs: Die visuelle Intensität kann von wichtigen Informationen ablenken
  2. Konservative B2B-Anwendungen: Nicht jeder Kunde ist bereit für so viel visuelle Disruption
  3. Informationslastige Plattformen: Bei zu viel Inhalt wird das Design schnell überwältigend

Ist Neo-Brutalismus relevant für 2025?

Einige meinen das.

“Neo-brutalism is making a statement in 2025 by embracing raw, bold, and imperfect design elements. This trend is about breaking the mold, by using bold color palettes, asymmetrical layouts, and unconventional typography. Neo-brutalism isn’t for everyone, but it’s perfect for brands that want to stand out, add a touch of rebellion, and make a memorable impression. via fivensonstudios.com .”

“Neo-brutalism has been a trend in graphic design for years, but it is now making its way into web design. This style challenges the idea that websites must be very subtle and shows that simplicity and imperfection can have a substantial impact. It aims to make a statement and stand out in a world where many websites look identical. via geniusee.com .”

“2025’s brutalist revival isn’t about being intentionally difficult or aggressive – it’s about authenticity and directness in communication. This appeals to brands seeking differentiation in a homogenized digital landscape, providing a refreshing departure from the highly polished aesthetics of recent years. The result is websites that reject current design conventions, feel more human, honest, and paradoxically modern. via theedigital.com .”

Ich glaube, das ist richtig. Die Zeit erfordert neue Formesprachen, verlangt nach Authentizität und Ehrlichkeit.

Gleichzeitig glaube ich, dass Neo-Brutalismus im Speziellen nur eine Möglichkeit dessen ist, was uns erwarten kann. Mein Gefühl sagt mir, dass diese konkrete ästhetische Formsprache des neo-brutalistischen Designs schnell überholt sein wird. Doch was bleibt ist, dass das Digitale und die Kommunikation in vielerlei Hinsicht neuen Herausforderungen ausgesetzt sein werden. Menschen benötigen zeitgemäße Formsprachen. In diesem Sinne glaube ich nicht, dass der Neo-Brutalismus bleibt, aber ein Schritt in die Gegenwart ist.

Function over form?

Gilt die goldene Regel ‘function over form’ für neo-brutalistische Designs? Das erscheint mir nicht mehr so.

Aber Anleihen aus der brutalistischen DNA existieren noch, indem etwa auf manchen Schnickschnack wie Verläufe oder Blur verzichtet wird. Auch muss das Design-Resultat nicht für alle Rezipienten passen, kein ästhetischer Massenkonsens muss bestehen. Es ist ein wenig so, als ob bestimmte Rituale und Sichtweisen einer Religion nach Generationen noch weitergeführt würden, obwohl niemand mehr an bestimmte elementareLehren oder die Ursprünge dieser glaubt.

Ich würde also sagen, dass ‘function over form’ nicht mehr gilt. Vielmehr haben sich aber die brachialen Eindrücke des ‘Brutalismus’ verselbstständigt und sind als Style in unserer Mashup-Kultur verstetigt worden, um eine Aura des Avantgardistischen einzufangen und für einen massentauglicheren Design zu verstetigen.

Neo-Brutalismus möchte sicherlich authentisch (nicht aalglatt) und ist als Design-Trend eine Alternative zum Mainstream. Davon benötigen wir mehr. Ich bin gespannt, was weiter daraus folgt.